Mittwoch, 11. Januar 2017

Was es mit uns macht ...

Ich sitze unausgeschlafen in der Bahn, starre auf mein Telefon und lese den Newsletter "Elbvertiefung" der "Zeit". Wie jeden Morgen. Das dauert genau so lange, wie meine Fahrt ins Büro, hilft mir, wach zu werden und macht mitunter richtig gute Laune, selbst mir als bekennendem Morgenmuffel. 

Gerade lese ich: "Auch vom heimischen Sessel aus lässt sich das Eröffnungskonzert bequem im 360°-Livestream  verfolgen. Besonders mittendrin werden sich dabei vor allem die Besitzer einer Virtual-Reality-Brille fühlen. Wem das zu intensiv ist, der kann natürlich auch die Fernsehübertragung des NDR einschalten. Der Festakt beginnt morgen um 18.30 Uhr, es moderiert Rolf Seelmann-Eggebert – nein, Quatsch: Barbara Schöneberger!" 

Es geht um die Eröffnung der Ebphilharmonie, die mein Murmelkind liebevoll Äpfelharmonie getauft hat und die heute stattfinden soll. Ich muss grinsen. 

Just werde ich aus meinen launigen Gedanken gerissen. Ein europäisch aussehender älterer Mann, vielleicht Anfang oder Mitte sechzig beginnt ein Telefonat. Sehr laut. Er hat einen indischen Turban auf und trägt eine Art Kurta Pajama in Hellblau unter seiner ebenso hellblauen Winterjacke. Sein Gesicht ziert ein fast weißer Bart und helle Augen huschen unter seinen buschigen Augenbrauen blitzend hin und her. Offenbar ist ihm daran gelegen, dass der gesamte Wagon seinem Gespräch lauscht. 

"Guten Tag. Ich rufe aus der U-Bahn Linie eins an ..." 
Ich blicke kurz auf und versuche mich weiter auf meinen Newsletter zu konzentrieren, muss aufgrund der Lautstärke weiter zuhören.
"Hier steht ein herrenloser schwarzer Rucksack ... ja ... schwarz mit orangen Streifen. Der steht jetzt hier seit ca. drei Stationen."
Spätestens jetzt hat er die Aufmerksamkeit aller Fahrgäste. Ich sehe mich um und blicke in ruckartig aufgerichtete Gesichter mit geweiteten Augen, die ebenso aus ihren Gedanken gerissen andere Augenpaare suchen, offensichtlich um die Situation und ihre Gefahr einzuschätzen. Mir geht es nicht anders. Ich schaue mich um und versuche die Lage einzuschätzen. Ich mag keinen Ernst. Schon gar nicht um diese Uhrzeit. Ich kann gerade mal meinen Namen bellen und bin noch lange nicht im Fluchtmodus. 
"... ja ... in der U1 ... wir ... ja ... wir fahren jetzt ... nächste Station ist der Jungfernstieg."

Den Rest des Gespräches blende ich aus und fühle in mich hinein. Das kleine Unbehagen hat sich breitgemacht und sitzt jetzt auf meinem Schoß, zündet sich eine Zigarette an und schmatzt genüsslich vor sich hin. Ich schubse es angewidert von meinem Schoß und lese halbherzig weiter über den Tod von Anne Volk, die Herausgeberin und "Blattmacherin" der "Brigitte" und dass die Müllabfuhr den Biomüll revolutionieren wird. 

Der Mann hat sein Gespräch beendet und drei viertel der Fahrgäste drängen zu den Türen des Wagons, als die Bahn am Jungfernstieg hält. So viele Menschen steigen sonst hier nicht aus. Oder irre ich mich? Es ist nur noch eine Station, dann muss auch ich aussteigen. Ich hadere mit mir. Ich könnte auch den Rest von hier aus zu Fuß gehen. 

Ein Mädchen geht zu dem Bärtigen und sagt ihm, dass der Rucksack vermutlich einer Frau gehört, die vor einer Weile ausgestiegen ist und ihn vermutlich vergessen hat. Er bedankt sich für die Information.



Die Bahn steht. Und steht. 
Als die Bahn aus der Gegenrichtung einfährt ... und wieder abfährt, stehen wir immer noch. Ich steige aus und gehe dann doch den Rest zu Fuß. Oben mit dem Himmel über meinem Kopf fühle ich mich wieder besser.

Das also macht es mit uns. 

Wir sind in Habachtstellung, sensibilisiert für den Terror, der aus dem Nichts auftauchen kann. Heute war ein Rucksack wahrscheinlich nur ein vergessener Rucksack, der trotzdem einen Fluchtreflex bei verhältnismäßig vielen Menschen ausgelöst hat. Gestern war es ein LKW, der so schnell war, dass alle Fluchtgedanken obsolet waren. Was wird es morgen sein? Wird unsere hochentwickelte europäische Kultur plattgewalzt vom Terror? Wird sich Europa demnächst auflösen in Uneinigkeit und in tausend Stücke zerfallen? Über den großen Teich geblickt, haben sie ein Trumpeltier an die Macht geschickt ... Dummheit ist gefährlich ... Wo sind die echten Helden hin? Geht es uns einfach zu gut, dass wir das soziale Miteinander vergessen? Wer, der in einer Großstadt lebt, kennt seinen Nachbarn und dessen Sorgen noch und ist bereit diesem zu helfen ... in welcher Form auch immer?

Warum genau waren die Maya nochmal untergegangen? 
Man munkelt, der Klimawandel wäre schuld. Weiß das bis heute jemand sicher? Vielleicht haben sie ja angefangen, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen aufgrund unterschiedlicher Lebensauffassungen, oder weil es ihnen zu gut ging, oder der Nachbar kein Wasser mehr rausrücken wollte, oder aus anderen hirnrissigen Gründen ...  Und dann sind die, die sich dem entziehen wollten aus den Metropolen geflüchtet. 

Nehmen wir einmal an, das Gros der Menschen würde die Großstädte verlassen, weil es dort inzwischen zu gefährlich ist ... zu gefährlich, den Weg zur Arbeit zurückzulegen, seine Kinder auf den Schulweg zu schicken ... einfach nur zu leben, zu lieben, zu lachen ...

Meine Gedanken hopsen. Aber ich möchte das an dieser Stelle besser nicht zu Ende denken ... der Mensch ist ein Tier!

Foto: Ichnicht (hat die Kamera auf die Schienen geworfen und hockt zitternd auf meinem Arm ... wir gehen dann mal ins Büro, da ist es lustiger)