Donnerstag, 23. Februar 2017

Wenn das Leben mal kurz ein Arschloch ist ... Teil 2

Teil 1 hier

Die Blase in der ich mich bewege, löst sich bis zum nächsten Morgen auf und es bleibt ein bleiernes Gefühl. Ich bin hilflos. Ich weiß immer noch nicht genau, was ich machen werde. 

Auf jeden Fall wechseln wir heute die Location auf der Insel. Es geht in den Süden nach Sainte Lucie de Porto Vecchio. Als der Vermieter unseres derzeitigen Domizils zur Schlüsselübergabe auftaucht, versuche ich sogar einen Witz. Im Apartment ist die Toilette defekt. Bei jedem Spülgang läuft Wasser aus dem Abwasserrohr ins Bad. Relativ geruchlos aber nicht besonders appetitlich. Mit meinem quasi nichtvorhandenen Französisch möchte ich ihn auf das "Eau de Toilette" aufmerksam machen und könnte mich in Anlehnung an gewisse Duftwässerchen aus hiesigen Parfümerien eigentlich ausschütten. Also eher innerlich. Er versteht es sowieso nicht.  




Die neue Behausung ist in einer Anlage gelegen, bietet Pool und Restaurant direkt vor Balkonien und einen zauberhaften Blick auf die Bucht. Nur ist es mir, als wäre ich nur zur Hälfte hier angekommen.  

Ich schreibe und telefoniere ständig mit dem Mann auf Mallorca, der sich gerade rührend um mein Schwesterherz kümmert. Unsere Eltern werde ich erst informieren, wenn wir genau wissen, wann der Flug nach Köln geht. 

Hin und wieder gelingt es ihr ein paar Worte zu formulieren. Ich schreibe ihr, dass ich am liebsten alles abbrechen und zu ihr fliegen möchte. Zurück kommt: "Nein nein genießt!" Sehr witzig, Schwesterherz! Sehr witzig! Ja sicher, ich chill  mir hier ´nen Wolf und genieße! 
Nun gut. Aber ich bin hier nicht alleine und wie ich die Situation an ihrer Seite mit Kindern im Gepäck logistisch meistern könnte, ist mir auch ziemlich schleierhaft. Tiefkühltruhe ist ja nicht wirklich eine Alternative.

Der Mallorca-Mann ruft an und sagt, dass der Transport für Sonntag geplant ist, dann sei sie soweit stabil, dass sie fliegen könne. Nun ist es an mir, diese Information nach Rudelshausen zu tragen. Mir ist schlecht, denn ich weiß genau, was ich jetzt mit meinem Anruf veranstalte. Bevor ich die Nummer der Eltern wähle, tigere ich das ein und andere Mal ums Haus und suche nach Formulierungen, die das was ich zu sagen habe, nicht so schlimm klingen lassen. Ich finde keine. 

Es klingelt. Unser Vater - in Fachkreisen auch liebevoll der Lump genannt - geht ran. Ich beginne mit den Worten, er solle die Mama - hier auch die Hetzi - rufen, eine Flasche Wasser auf den Tisch stellen, sie sollen sich setzen und mir genau zuhören. Dann beginne ich die Details zu schildern und bitte sie, nach Köln zu fahren. Da ich genau weiß, was das, was ich gerade sage mit einem macht, schließe ich mit den Worten, ich würde in einer halben Stunde noch einmal anrufen, wenn der Boden unter den Füßen wieder spürbar wäre. Ich lege auf. Nach dem nächsten Telefonat ist klar, der Lump wird alleine reisen. Er wird vor der Klinik sitzen, auf seine Tochter warten und sie durch diese krassen Tage begleiten. 

Es gibt eine ungefähre Ankunftszeit Die ist bereits um Stunden überschritten. Ich tigere zum wiederholten Male um das Haus und der Lump und ich telefonieren das vierte Mal. Sie ist nicht da. Ich frage, den Mallorca-Mann, der fragt den ADAC und wieder nur heißt es, dass sie unterwegs wäre. So langsam habe ich seltsame Gedanken. In meinem ganz eigenen Film ist der Mallorca-Mann ein Organhändler und mein Schwesterherz bereits unterwegs nach Brasilien. Ich nehme einen großen Schluck Wein, starre auf den Pool und beschimpfe mich innerlich für meine schlimmen Gedanken. Alles wird gut. Sie haben gesagt, alles wird wieder gut. 

Endlich kommt er erlösende Anruf. Sie ist da. Der Flieger war noch mit anderen Patienten bestückt und ist deshalb nicht wie erwartet in Köln gelandet, sondern in Frankfurt. Das erklärt natürlich einiges. Wann die OP sein wird, ist noch nicht ganz klar. Ich nehme mal an, dass man mit den spanischen Papieren nicht so super zurecht kommt und sowieso alle Untersuchungen noch einmal durchführen wird. So schleichen die Tage dahin, bis der Termin steht. Inzwischen ist mein Schwesterherz wieder in der Lage aneinandergereihte Wörter mit Inhalt zu formulieren. Das gibt Hoffnung.

Für uns ist wieder mal Umzugstag auf der Insel. Letzte Station. Es geht wieder in den Norden. Ein zauberhaftes Fleckchen Erde, völlig verträumt zwischen lauter Weinbergen in der Nähe von St.Florent. Ich würde es so gerne genießen und mein Herz hier verlieren. Aber ich kann nicht.  




Am Tag der OP haben der Lump und ich wieder eine Standleitung. Aus den geplanten zehn Stunden, werden fünfzehn. Empfehle jedem Familienangehörigen in so einer Situation, der OP beizuwohnen und sich notfalls mit gezogener Waffe auf gar keinen, aber auch auf gar keinen Fall vertreiben zu lassen. Ungewissheit ist Folter. Telefoniere mit der Hetzi. Sie hält sich tapfer, die Stellung und liest sich durch sämtliche ihr zur Verfügung stehenden medizinischen Bücher und Diagnosen aus Studienzeiten. Wir rätseln gemeinsam um die Qualität des bescheuerten Tumors, wo er her- und wie er dahin kommt und werden doch nicht schlauer.

Der Lump verkündet, die OP wäre gut verlaufen. Der Tumor ist raus, bis auf ein paar Reste, die hätte man aber im Griff, da das Mistvieh so langsam wächst. Ich atme etwas auf. Am nächsten Tag ist mein Schwesterherz sogar schon wieder fähig, Halbsätze in ihr Telefon zu zimmern. Sie schickt mir ein Foto. Meine dazu, dass ich ihre Stylistin hiermit für den Oscar nominiere. Schwesterherz kommentiert, sie hätte schon mal schöner ausgesehen. I wo! 

Als der Verband ab ist, schickt sie noch ein Foto. Ich muss schlucken. Oder um mit der Murmel zu sprechen: "Heieiei!" Aber sie steht aufrecht im Bad und sieht schon viel besser aus ohne Lappen am Kopf. Gut so. Es geht also aufwärts.

Und dann kommt der Anruf, der alles wieder auf Null fährt ...

Fotos: Ichnicht